Kol Simcha im Sendesaal des NDR
Wow - die Schweizer Gruppe Kol Simcha, die "Stimme der Freude", in Hannover! Klar, dass ich dabei sein musste - dafür habe ich sogar einen anderen Termin sausen lassen, auf den ich mich auch schon gefreut hatte. Axel Zwingenberger hätt's da gegeben und Gottfried Böttcher - die creme de la creme der deutschen Ragtime- und Bluespianisten an einem Piano in einer Kneipe vereint ... Aber man kann nicht alles haben. Non, je ne regretes rien ... Was mich wunderte, war, dass das Konzert im Grossen Sendesaal des NDR stattfinden sollte. Normalerweise gibt's so etwas im Pavillon.Überraschung am Abend: die Damen in Abendkleidern (die meisten, bis auf die aus der hannoverschen Klezmerszene), die Herren in Schlips und Kragen (wiederum die meisten, bis ...). Ein Blick ins Programm: Das 1. Abonnementskonzert der Radio-Philharmonie Hannover in der Saison 1999/2000?! Und in der Tat: Es spielte die Radio-Philharmonie des NDR mit Basil Coleman am Dirigentenpult. Solisten: Ensemble Kol Simcha. Ich war platt. Ein solches Experiment sollte auch Pro Musica einmal wagen ...
Genug der Vorrede. Der Abend begann mit Sergej Prokofjews Overtüre über hebräische Themen, dargeboten vom Orchester "solo". Anschliessend betrat Kol Simcha die Bühne und fetzte sofort mit fast schon "pure jazz" Improvisation los. Oh, dachte ich, hoffentlich ist das nicht zu heftig fürs Abonnements-Publikum ... War es aber nicht, die fünf Musiker hatten das Publikum sofort im Griff. Den weitaus grössten Teil zumindest. Es folgten Oliver Truans Komposition "Israel" und Niki Reisers "Klezmopolitan Suite", dargeboten in perfekter Zusammenarbeit mit dem Orchester. Nicht nur Kol Simcha merkte man die Freude am Spiel an, auch und besonders den Damen und Herren des Philharmonie-Orchesters. Nach der Pause ging es mit Niki Reisers "Swiss Klezmer" weiter - ein unheimlich witziges Stück mit Kuhglocken im Hintergrund, an ein Alphorn erinnernden Klängen aus den Blechbläsern und dezenten Anspielungen an alpenländische Volksmusik. Höhepunkt des Abends war Oliver Truans "Klezmer Suite", nach klassischem Vorbild in 4 Sätzen gestaltet. Ganz besonderer Höhepunkt hierbei: der zweite Satz, überschrieben "Wedding Band". In der Satzpause trugen Techniker in rasender Eile Notenständer an den Bühnenrand, und während sich noch alles wunderte, was das sollte, traten 10 Musiker aus dem Orchester nach vorne, um mit Kol Simcha zusammen eben die Wedding Band zu bilden. Besonders herausragend hierbei: die Geigerin, die sich fast in Exstase zu spielen schien. Diese Frau sollte sich unbedingt einer Klez-Band anschliessen ... Der Abend klang aus mit einer Zugabe, einer Huldigung an Naftule Brandwein, der, wie Michael Heitzler, Kol Simchas charismatischer Klarinettist, im Vorwort bemerkte, nicht nur so hiess ...
Volker Schulzes einfühlsame und kenntnisreiche Einführung im Programm in das, was Klezmer ausmacht, was Klezmer ist und woher diese Musik kommt, schloss mit den Worten: "Viel Vergnügen!" Wahrlich, das hatten wir. Verdiente "standing ovations" für Kol Simcha und das Radio-Philharmonie-Orchester Hannover des NDR.
Kol Simchas Klezmer-Richtung hat nicht viel mit Traditionen zu tun, ist "nichts für Puristen und Nostalgiker, die auf der unendlichen Suche nach dem jiddischen Original sind" (Zitat aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 29.11.99). Nein, Kol Simcha versteht Klezmer als das, was es, auch meiner bescheidenen Meinung nach, (auch) ist: als zeitgenössische Musik. Viele Bands haben für sich den Anspruch, Klezmer ins neue Jahrtausend zu führen, Kol Simcha ist eine der wenigen, die diesem Anspruch gerecht werden. Allerdings - sie nehmen es nicht für sich in Anspruch, sie machen es einfach. Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass im Gregorianischen Kalender, nach dem in ein paar Wochen ein neues Jahrtausend beginnt (selbst das stimmt eigentlich nicht), das Jahr 0 irgendwann einmal willkürlich festgelegt wurde, ebenso wie in allen anderen auf dieser Welt noch gütigen Kalendern.
Die Musiker:
| Michael Heitzler | Klarinette |
| Niki Reiser | Flöte |
| Olivier Truan | Klavier |
| Daniel Fricker | Bass |
| David Klein | Schlagzeug |
Detlev Müller, 30-NOV-1999